Fortschritte im Bereich der Epilepsie
Interview mit Christoph Baumgartner, Vorstand der Neurologischen Abteilung in der Klinik Hietzing
Rund 1 % der Weltbevölkerung hat Epilepsie, in Österreich sind etwa 90.000 Menschen betroffen. Bei etwa zwei Drittel der Patient*innen ermöglicht eine medikamentöse Therapie mit so genannten Anfallssuppressiva Anfallsfreiheit und somit ein „normales Leben“. Der restliche Teil gilt als „schwer behandelbar“ und erfordert besondere diagnostische Verfahren. Christoph Baumgartner, ein international anerkannter Epilepsie-Experte, gibt Einblicke in die aktuellen Fortschritte der Epilepsieforschung und die möglichen Diagnostik- und Behandlungsmethoden.
Wie verläuft die Patient*innen-Journey bei Epilepsie?
Epilepsie wird oft erst nach einem größeren Anfall erkannt, woraufhin die Betroffenen in eine Klinik gebracht werden. Dort werden diagnostische Verfahren wie Blutuntersuchungen, MRT-Scans und EEGs durchgeführt. In etwa der Hälfte der Fälle bleibt es bei einem einzigen Anfall, sodass keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden. Bei auffälligen Befunden oder einem erneuten Anfall wird eine medikamentöse Therapie eingeleitet, die in rund zwei Dritteln der Fälle erfolgreich ist. Diese Patient*innen werden in der Regel ambulant weiterbehandelt. Für das verbleibende Drittel, das auf Standardbehandlungen nicht anspricht, ist eine weiterführende Diagnostik erforderlich.
Wie wird entschieden, welche Behandlungsmethode geeignet ist?
Wir arbeiten eng mit der Radiologie der Klinik Hietzing zusammen, um detaillierte Hirnscans zu erstellen. In unserem Epilepsiezentrum bieten wir zudem ein stationäres Video-EEG-Monitoring in unserer Epilepsie-Monitoring-Unit (EMU) an. Dabei stehen Patient*innen in der Regel eine Woche unter EEG-Beobachtung. Die gewonnenen Daten ermöglichen eine präzisere Diagnose und eine darauf abgestimmte Therapieplanung.
Sie haben die Epilepsiechirurgie nach Österreich gebracht, warum eignet sich diese Behandlung nicht für alle Betroffenen und welche Alternativen gibt es?
Ein epilepsiechirurgischer Eingriff ist eine mögliche Therapieoption für Patient*innen mit therapieresistenten Anfällen. Im Rahmen der prächirurgischen Diagnostik, die wir an der Klinik Hietzing durchführen, muss dabei einerseits der Teil des Gehirns genau lokalisiert werden, von dem die Anfälle ausgehen. Andererseits müssen auch so genannte essentielle Hirnregionen, also die Zentren für Sprache, Gedächtnis, Motorik etc. exakt identifiziert werden, damit durch die Operation keine neurologischen oder neuropsychologischen Ausfälle entstehen. Die chirurgischen Eingriffe werden dann an der Universitätsklinik für Neurochirurgie im AKH Wien durchgeführt, mit der seit mehr als 30 Jahren eine enge Kooperation besteht. Maximale Erfolgschancen und Sicherheit können nur durch eine hochqualitative und enge Zusammenarbeit in einem multidisziplinären Team bestehend aus Neurolog*innen, Neurochirurg*innen, Radiolog*innen, Nuklearmediziner*innen, Psycholog*innen und Biomedizinischen Analytiker*innen erreicht werden. So kann bei 70 bis 80 % der therapieresistenten Patient*innen Anfallsfreiheit und somit eine Heilung erreicht werden. Dies kann zu völlig neuen Lebensperspektiven für die Betroffenen führen. Allerdings sind nicht alle Patient*innen für eine Operation geeignet, insbesondere wenn die Anfälle von mehreren Stellen im Gehirn ausgehen oder die betroffene Hirnregion eine sensible Lage aufweist.
Welche anderen Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Hier sind so genannte Neurostimulationsverfahren zu nennen, bei denen einerseits das Gehirn mit Elektroden direkt stimuliert wird (tiefe Hirnstimulation des Thalamus oder responsive Neurostimulation), andererseits kann auch der Nervus vagus am Hals stimuliert werden. Neuerdings steht auch eine subkutane Kortexstimulation zur Verfügung. Alle Stimulationsverfahren sind aber im Gegensatz zur Epilepsiechirurgie rein palliative Verfahren, das heißt sie führen zu einer Anfallsreduktion, aber in der Regel nicht zur Anfallsfreiheit.
Ist ein „normales Leben“ mit Epilepsie möglich?
In den meisten Fällen ja. Mit den verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten können wir den meisten Betroffenen helfen, ein normales Leben zu führen. Beispielsweise wurde früher angenommen, dass eine Schwangerschaft mit Epilepsie problematisch sei. Heutzutage stehen jedoch viele Medikamente zur Verfügung, die auch während der Schwangerschaft sicher angewendet werden können. Außerdem helfen neue diagnostische Verfahren wie beispielsweise die Implantierung eines EEGs unter die Haut, das auch langfristig zu Hause getragen werden kann, epileptische Anfälle zu erkennen und in Zukunft auch diese vorherzusagen. Dies bedeutet einen Paradigmenwechsel in der Epilepsiebehandlung zur so genannten bedarfsgesteuerten Therapie.
Welche andere Erkrankung kann vorliegen?
Wesentlich ist es auch, die Differenzialdiagnosen zu bedenken. So leiden zirka 15 % der Patient*innen, die wegen therapieresistenter Anfälle an ein Epilepsiezentrum zugewiesen werden, nicht an epileptischen Anfällen. Die häufigste Ursache für nicht-epileptische Anfälle sind so genannte psychogene nicht-epileptische Anfälle, die psychiatrische Erkrankungen darstellen. Darum haben wir ein Pilotprojekt mit der 3. Psychiatrischen Abteilung der Klinik Hietzing initiiert: Einmal pro Woche kommt ein*e Psychiater*in ins Epilepsiezentrum, um niederschwellig mögliche psychiatrische Ursachen der Anfälle mit den Patient*innen zu besprechen.